Mit intentionalem Bemerken soziale Ungleichheiten sichtbar machen

Anlässlich des Weltfrauentags 2024 wurde an der Universität für Weiterbildung Krems das Event “Hidden Figures. Wie sich Gender Gaps in der Wissenschaft auf uns alle auswirken” veranstaltet und meine Kollegin Alexandra Gössl und ich durften mit einer Keynote beitragen. Wir haben einen aktuell in unserem Department beforschten Ansatz hinsichtlich seines Potentials für die Sichtbarmachung von sozialen Ungleichheiten unter die Lupe genommen – und großes Potential für die Forschung und auch für unseren Alltag entdeckt.

Im Alltag werden soziale Ungleichheiten oft übersehen. Die große Herausforderung: Das Privileg der Privilegierten ist, dass sie ihr Privileg nicht sehen (McIntosh). Wie kann man nicht nur Bewusstsein zu den theoretischen Konzepten erlangen, sondern auch Übung darin, die verschiedenen Ausformungen sozialer Ungleichheiten im Alltag zu erkennen?

Intentionales Bemerken üben

Intentionales Bemerken ist mehr als alltägliches Bemerken. Wir lehnen den Begriff an “professional noticing” an, einen Ansatz aus der Professionsforschung. Dabei geht es um die berufliche Perspektive, aus der Expert:innen gewisse Situationen sehen. Je nach dem, in welchem Beruf man tätig ist, bemerkt man unterschiedliche Dinge in derselben Situation.

Bemerken sozialer Ungleichheit als Beruf und im Beruf

Es gibt Expert:innen, bei denen das Bemerken sozialer Ungleichheiten ein zentrales Element des Berufs darstellt. Das sind etwa Gender-Forschende, Mitarbeiter:innen im Bereich Diversity, etc.
Diese Exper:innen werden oftmals auch in verschiedene organisationale Prozesse hinzugezogen, damit sichergestellt wird, dass nichts übersehen wird in Bezug auf gewisse Aspekte sozialer Ungleichheit.

Wir wollen uns näher ansehen, wie wir das Bemerken sozialer Ungleichheiten in verschiedenen anderen Berufen fördern können. Die Expert:innen aus etwa Gender-Stabstellen oder Gender-Forschende können uns dabei helfen und uns anleiten, im Alltag besser zu bemerken.

Theorie und Praxis verbinden

Es gibt Herausforderungen beim Bemerken:

  • Wissen zu sozialen Ungleichheiten: Wenn Wissen fehlt, helfen Workshops, Vorträge, Schulungen, etc. um Fakten- und Prozesswissen anzueignen.
  • Wille: Wir brauchen einen Willen zu bemerken. Lernen kann bedeuten, dass unser Weltbild ins Wanken gerät oder unsere Identität bedroht ist, weil man z.B. einen Fehler zugeben müsste. Es braucht Offenheit und die richtige Fehlerkultur.
  • Aufmerksamkeit: Die kognitive Last ist eine Herausforderung. Gerade Anfänger:innen in einem Beruf lernen erst Schritt für Schritt Aspekte der Praxis und tun sich oft schwer, auf einmal all die wichtige Aspekte der Praxis zu bemerken. Auch wenn man sehr gestresst ist, ist es oft so, dass man wie mit Scheuklappen durch das Leben läuft. Bemerken fällt dann schwer.

Und dann, selbst wenn wir all diese Herausforderungen bewältigt haben, so ist es gar nicht so einfach, das theoretische Wissen automatisch in die Praxis zu übertragen. Es braucht Unterstützung beim “Lerntransfer”, das ist der Transfer von etwas, was z.B. in einem Seminarraum theoretisch erlernt wurde, in die Praxis. Man braucht Übung, Aspekte der Theorie in ihrer praktischen Ausformung zu erkennen. Die Praxis ist komplex und die Theorie “reduziert” auf das Wesentliche. Es gibt eine Lücke zwischen Theorie und Praxis. (Mustersprachen versuchen übrigens ein Bindeglied dazwischen zu sein)

Eine Möglichkeit dieser Herausforderung zu begegnen sind Methoden des arbeitsbasierten, situierten Lernens. Mit Hilfe von Beobachtung, Reflexion, Peers und Mentor:innen kann das Bemerken trainiert und reflektiert werden. Es kann auch Schritt für Schritt das Bemerken in komplexen Situationen geübt werden: Erst durch Fallbeispiele in Text oder Videoform (super zum Stoppen und Reflektieren), dann durch Simulationen und Rollenspiele und eigene Beobachtungen in der beruflichen Praxis. Zentral ist, dass die Lernenden durch “Beobachtungs-Promps” auf die Beobachtung vorbereitet werden (Rooney & Boud, 2019).

Eine Pädagogik des Bemerkens

Die Pädagogik des Bemerkens ist noch in den Kinderschuhen, es gibt zwar erste Publikationen (Rooney & Boud, 2019) dazu aber es braucht noch mehr Forschung. Und dann vor allem auch mehr Forschung im Bereich Diversity, Equity and Inclusion. Der Ansatz des professionellen Bemerkens bzw. der professionellen Wahrnehmung eignet sich als analytische Brille, um die einzelnen Prozessschritte des Bemerkens zu beforschen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Es gibt hier viel Potential und ich hoffe, dass wir einen Beitrag leisten konnten, damit in Zukunft das Bemerken von sozialen Ungleichheiten weiter beforscht werden und diese in weiterer Folge öfter gesehen und auf diese reagiert werden kann.

Die Folien zur Präsentation

Wer gerne noch hineinschmökern möchte, hier sind die Folien zur Präsentation (inkl. Literaturquellen):

Habt ihr schon einmal soziale Ungleichheiten übersehen, seid aber vielleicht später drauf gekommen?

Wieso war es so schwer, diese Ungleichheit zu bemerken? Ich würde mich freuen, von euren Erfahrungen in den Kommentaren zu lesen!

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